Direktanspruch gegen den Fiskus im Billigkeitsverfahren nach §§ 163, 227 AO wegen Rückerstattung der Umsatzsteuer (aktuelle EuGH-Rspr. in Bezug auf deutsches Umsatzsteuerrecht) […]
Direktanspruch gegen den Fiskus im Billigkeitsverfahren nach §§ 163, 227 AO wegen Rückerstattung der Umsatzsteuer:
Die Problematik entsteht u.a. im Rahmen der Abwicklung der § 13b UStG-Geschäfte in der Baubranche, wenn zum Beispiel irrtümlicherweise zwischen dem Leistenden und Leistungsempfänger nach der Bruttomethode anstatt nach der Nettomethode nach § 13b UStG geleistet und abgerechnet wurde.
Im Regelfall erst Jahre später, wenn es zur Betriebsprüfung kommt, wird festgestellt, dass umsatzsteuerrechtliche Abwicklung zwischen dem Leistenden und Leistungsempfänger falsch war. Oft ist auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht Festsetzungsverjährung bereits eingetreten. Der Leistungsempfänger muss in solchen Fällen von dem Leistenden nach § 14c UStG die Rechnungsberichtigung verlangen und die bereits geleisteten Umsatzsteuer von ihm zurückverlangen. Es findet Rückabwicklung der Umsatzsteuer statt. Bei der Zurückerstattung der Umsatzsteuer gibt es auch die Möglichkeit der Abtretung, die im Regelfall vom Fiskus akzeptiert wird.
Oft sind manche Unternehmer als leistende Unternehmer insolvent, nicht auffindbar oder sie berufen sich auf die zivilrechtliche Einrede der Verjährung. Für die Durchsetzung der Ansprüche (Rückerstattung der Umsatzsteuer) zwischen dem Leistungsempfänger und dem Leistenden ist ausschließlich der Zivilrechtsweg gegeben.
Bisher war höchstrichterlich einigermaßen geklärt, das im Falle der Insolvenz des Leistenden dem Leistungsempfänger ein Direktanspruch nach §§ 163, 227 AO im sog. Billigkeitsverfahren gegenüber dem Finanzamt zusteht, wenn die Rückerstattung der Umsatzsteuer „unmöglich“ oder „übermäßig schwierig“ ist. Für die Kategorie der „Unmöglichkeit“ galten vor allem die Fälle der Insolvenz des Leistenden (vgl. EuGH-Urteil v. 11.04.2019 – C-691/17 – PORR Epitesi Kft; EuGH-Urteil v. 15.03.2017 – C 35/05 – Reemtsma Cigarrentenfabriken).
Der Fiskus stellt sich quer gegen den Direktanspruch des Leistungsempfängers sowohl im Billigkeitsverfahren als auch im Einspruchsverfahren. Im außergerichtlichen Verfahren ist es beinahe aussichtslos, den Direktanspruch gegenüber dem Fiskus geltend zu machen. Das ist zumindest wohl die gängige Praxis in Baden-Württemberg.
Das FG Münster (vgl. Beschluss des FG Münster vom 27.06.2022 – 15 K 2327/20 AO) legte dem EuGH durch Vorlagenbeschluss die Frage vor, ob u.a. die Einrede der Verjährung in die Kategorie „unmöglich“ oder „übermäßig schwierig“ fällt.
Der EuGH wies daraufhin in seinem aktuellen Urteil vom 07.09.2023 – C – 453/22-, Rs. Schütte, hin, dass es sich beim Anspruch auf Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Steuern um einen unionsrechtlich garantierten Anspruch handele. Werde die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig schwierig, könne sich aus den unionsrechtlichen Grundsätzen ergeben, dass dem Leistungsempfänger die Möglichkeit eingeräumt werden müsse, einen Antrag auf Erstattung unmittelbar an die Steuerbehörden zu richten („Direktanspruch“).
Im o.g. Urteil des EuGH wies der Gerichtshof auch darauf hin, dass er die Insolvenz eines Leistenden immer lediglich als Beispiel der Unfähigkeit zur Rückzahlung genannt („insbesondere“), andere Fälle damit aber nicht ausgeschlossen habe. Nach der Auffassung des EuGH steht dem Leistungsempfänger ein Direktanspruch auch dann zu, wenn der Leistungsempfänger die Mehrwertsteuerbeträge vom Leistenden nicht mehr zurückverlangen kann, weil dieser sich auf die Einrede der Verjährung beruft.
Damit ist wohl durch das Urteil EuGH geklärt, dass die Fälle der Insolvenz und der Verjährung in die Kategorie „unmöglich“ fallen. Was aber in die Kategorie „übermäßig schwierig“ zu subsumieren, ist nach wie vor höchstrichterlich nicht geklärt. Die Fälle der Unerreichbarkeit des Leistenden sollen wohl in die Kategorie „übermäßig schwierig“ fallen. Denn dem Leistungsempfänger ist es gleichgültig, ob er sein Geld nicht zurückbekommt, weil der Leistende insolvent ist oder weil er die Zahlung aus anderen Gründen nicht zahlen kann, weil er nicht auffindbar ist.
Sonst bleibt der Leistungsempfänger ohne Direktanspruch auf dem Schaden sitzen und er hat an das Finanzamt gesetzeswidrig doppelte Zahlung (zuerst im Rahmen der Bruttoabrechnung an den Leistenden und dann im Rahmen der Vorsteuerabzugskürzung an den Fiskus) der Mehrwertsteuer geleistet.
Zu beachten ist, dass das Urteil des FG Münster noch aussteht. Außerdem ist zu beachten, dass der BFH ebenfalls eine Vorlage in Bezug auf den Direktanspruch gegen den Fiskus dem EuGH vorgelegt hat (vgl. BFH-Beschluss vom 03.11.2022 – XI R 6/21). In dieser Sache ist ebenfalls noch keine Entscheidung gefallen.
Das BMF-Schreiben vom 12.04.2022 (III C 2 – S 7358/20/1001:004; DOK 2022/0385137) ist wohl aufgrund des oben genannten EuGH-Urteils nicht mehr aktuell, da dieses Schreiben lediglich einen Direktanspruch dem Leistungsempfänger nur für den Fall einer abschließend festgestellten Insolvenz des Leistenden vorsieht, wobei die rechtliche Qualität dieses BMF-Schreibens ohnehin wegen fehlender Rechtswirkung sehr zweifelhaft ist.
Zu beachten ist auch, dass, wenn die Voraussetzungen für einen Direktanspruch nach der Rechtsprechung des EuGH und BFH erfüllt sind, der Ermessensspielraum der Finanzverwaltung im Billigkeitsverfahren nach §§ 163, 227 AO auf Null reduziert ist (vgl. BFH-Urteil v. 30.06.2015 – VII R 42/14 Rn. 27 m.w.N).
In den Fällen der einschlägigen Streitigkeiten mit der Finanzverwaltung ist daher empfehlenswert, sich auf die aktuelle Rechtsprechung des EuGH, des BFH und der deutschen Finanzgerichte zu beziehen. Den Weg zu Finanzgerichten sollte man nicht scheuen.
Nachfolgend weitere Ausführungen zum Direktanspruch:
Nach der Rechtsprechung des EuGH besteht in Ausnahmefällen – unter Beachtung des Grundsatzes der Effektivität – ein unmittelbarer Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers gegen die Finanzbehörde, wenn die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert wird (Urteil des Gerichtshofs vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41).
Hierzu müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Leistungsempfänger ermöglichen, zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen (Urteil des Gerichtshofs vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41).
In seiner nachfolgenden Rechtsprechung hat der EuGH diese Grundsätze mehrfach bestätigt (vgl. Urteile in diesem Sinne vom 26. April 2017, Rs.C-564/15, Farkas, EU:C:2017:302, Rn. 53; vom 11. April 2019, Rs.C-691/17, PORR, ECLI:EU:C:2019:327, Rn. 42; vom 10. Juli 2019, Rs.C-273/18, Kursu zeme, ECLI:EU:C:2019:588, Rn. 41).
Die Rechtsprechung der deutschen Finanzgerichte hat sich der Rechtsprechung des EuGH angeschlossen (vgl. BFH-Urteil v. 25.06.2020 – V B 88/19; BFH-Urteil v. 22.08.2019 – V R 50/16; BFH-Urteil v. 5.12.2018 – XI R 44/14, Rz. 75 f. und BFH-Urteil v. 5.12.2018 – XI R 8/14, Rz. 81 ff.).
Der BFH sieht das den Mitgliedstaaten eingeräumte Recht zur Bestimmung des Verfahrens durch die nach deutschem Recht gegebene Möglichkeit einer Entscheidung der Finanzbehörde im Billigkeitsverfahren gem. §§ 163, 227 AO als gewährleistet (vgl. BFH-Urteil v. 30.06.2015 – VII R 42/14 Rn. 23-28 m.w.N).
Soweit dem Beklagten nach diesen Vorschriften ein Ermessensspielraum zustehe, der grundsätzlich durch die Gerichte nur eingeschränkt überprüft werden kann, ist dieser Ermessensspielraum auf Null reduziert, wenn die Voraussetzungen für einen Direktanspruch nach der Rechtsprechung des EuGH („Reemtsma-Anspruch“) gegen den Beklagten erfüllt sind (vgl. BFH-Urteil v. 30.06.2015 – VII R 42/14 Rn. 27 m.w.N).
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